Entdeckendes Lernen contra Flipped Classroom?

Seit 2008 bin ich nun auf der Suche nach DER Methode, nach DEM Konzept, das meine SchülerInnen begeistert, das die Lernergebnisse verbessert, das soziale Kompetenzen fördert, das SchülerInnen möglichst selbstständig arbeiten lässt… 2013 bin ich dann auf die Idee gekommen, Erklärvideos in meinem Mathematikunterricht einzusetzen. Ich war es leid, immer wieder das Gleiche zu erklären (ich hatte einige frontale Phasen), obwohl ich in einer Klasse schon mehrfach eben genau das getan habe. Es stellte sich aber heraus, dass der Einsatz von Videos allein keinen Einfluss auf den Unterricht hatte, wohl aber die dadurch gewonnene Zeit für selbstständiges Üben. Ich habe nach und nach meinen Flipped Classroom (so heißt das Konzept dahinter) so entworfen, dass die Videos nicht im Zentrum stehen sondern lediglich Hilfen sind, um den Unterricht effizienter zu gestalten. Die Ergebnisse geben mir denke ich Recht: die SchülerInnen arbeiten selbstständiger, eifriger, motivierter und erzielen dadurch bessere Noten. Sie erhalten – quasi nebenbei - Medienkompetenz, der Lehrplan wird erfüllt und zahlreiche zusätzlich soziale Kompetenzen werden automatisch gewonnen. Wer mehr über meine Herangehensweise wissen möchte, kann sich gerne auch diesen Vortrag im Netz anschauen oder sich bei meinen Blogartikeln austoben.

Allerdings bekomme ich immer wieder die gleiche Kritik zu hören: „Dem Flipped Classroom fehlt das Entdeckende Lernen, Videos sind linear, nicht konstruktivistisch und damit höchstens eine Algorithmusschulung.“

Wahrscheinlich gilt das für die ersten Versuche, Erklärvideos mehr oder weniger unreflektiert in den Unterricht zu integrieren. Flipped Classroom hat sich aber weiterentwickelt, Entdeckendes Lernen ist damit nicht ausgeschlossen.

1. Entdeckendes Lernen
Frontalunterricht ist seit langem – nicht nur im Mathematikunterricht – ein probates Mittel, um Sachverhalte darzustellen. Dadurch schaffen es die SchülerInnen allerdings nur, in ähnlichen Kontexten Aufgaben zu lösen. Durch eine leichte Modifikation der Aufgabenstellung kann das Erlernte aber meist nicht mehr auf die veränderte Situation angepasst werden. Gerade im Fach Mathematik ist das Entdeckende Lernen daher essentiell für die Nachhaltigkeit. Wenn SchülerInnen etwas selbst erkennen, wenn sie selbst ein Aha-Erlebnis bei einer Problematik haben, dann können sie das Erlernte später leichter abrufen und auch Transferaufgaben leichter lösen. Je mehr erklärt wird, desto weniger wird gelernt. Das Lernen mit offenen Aufgaben und Problemstellungen hat seinen Platz in der Didaktisierung und das nicht nur in den MINT-Fächern.

2. Mit Flipped Classroom entdecken
Reduziert man das Konzept des umgedrehten Unterrichts auf einen Satz, könnte man meinen, Erklärvideos widersprechen dem Entdecken. Sie sind linear und lehren eigentlich nur einen Algorithmus, der dann in verschiedenen Situationen erneut angewendet wird. Doch ein Video muss nicht immer erklären, genauso wenig muss es nicht immer am Anfang einer Lerneinheit stehen. Der Lehrer konzeptioniert seinen Unterricht, überlegt sich in welcher Phase seine SchülerInnen einen Input von ihm als Fachkraft nötig haben und erstellt erst dann ein Video.

2.1 Impulsvideos
So gibt man als Hausaufgabe beispielsweise ein Video auf, das Grundwissen aktiviert und dann mit einer Aufgabenstellung bis zur nächsten Stunde endet. SchülerInnen müssen sich selbst einen Zusammenhang erschließen, etwas ausprobieren, ohne das Ergebnis zu kennen. Im Unterricht selbst werden die Versuche verglichen und gegebenenfalls vom Lehrer mit Fachausdrücken ergänzt. Anschließend gehen die SchülerInnen direkt in die Übungsphase und wenden ihr Wissen in unterschiedlichen Kontexten differenziert an. Als Hausaufgabe bekommen sie ein reines Erklärvideo über die bereits erarbeitete Thematik, mit dem sie nachträglich einen Hefteintrag gestalten sollen. So gewinnt man Zeit für das gemeinsame Arbeiten und verschiebt für die Präsenzphase weniger wichtige Elemente auf den Nachmittag. Mit viel Arbeitsaufwand wäre es an dieser Stelle auch möglich, schon bei den vorangestellten Impulsvideos differenzierte Problemstellungen über das Thema in Form von verschiedenen Videos zur Verfügung zu stellen.

Seit 2016 unterrichte ich fast ausschließlich mit der Kombination Impuls-/Erklärvideos. Einen deutlichen Effekt bezüglich Nachhaltigkeit habe ich nicht ausmachen können. Dennoch erscheint mir diese Herangehensweise mittlerweile am sinnvollsten beim Einsatz von Erklärvideos im Flipped Classroom. Natürlich ist das Impulsvideo in dem Fall nicht notwendig, eine gute Aufgabe lässt sich auch durch andere Materialien wie z.B. einem Arbeitsblatt oder einem Bildimpuls vorab aufgeben. Es geht beim Einstieg um den Flip-Effekt des individuellen Vorbereitens und beim abschließenden (jetzt auch im Format des Videos wichtig) Erklärvideo darum, alle wieder zu sammeln. Mit beiden flankierenden Maßnahmen erhöhe ich die Kommunikation im Klassenzimmer und schaffe Raum für mehr Vertiefung als vorher.

2.2 Lösungsmuster in Videoform
Gleiches gilt auch beim eigenständigen Lösen von komplexen Aufgabenstellungen im Unterricht. Die SchülerInnen bekommen ausreichend Zeit, um sich selbst an Aufgaben zu versuchen, Ansätze auszuprobieren und mathematische Zusammenhänge entdecken können. Um alle wieder auf einen gemeinsamen Stand zu bringen erhalten die SchülerInnen ein Lösungsvideo, das ab einem bestimmten Zeitpunkt freigeschaltet wird und zur Reflexion bzw. Verbesserung über das selbst Erarbeitete dient. Die SchülerInnen könnend dabei entscheiden, wann sie es sich ansehen und beispielsweise an Stellen „spulen“, die für sie ein Hindernis darstell(t)en.

2.3 Pausebutton
Auch in einem einführenden Erklärvideo kann man SchülerInnen zum Entdecken animieren. Mitten im Video gibt es eine Aufgabenstellung, mit der sie etwas erarbeiten sollen. Sie werden vom Sprecher dazu aufgefordert auf Pause zu drücken und selbst tätig zu werden. Erst nach Abschluss der Aufgabe drücken sie wieder auf Play und erhalten dann die Auflösung. An dieser Stelle könnte man einwenden, dass ein Pausebutton keine Verpflichtung darstellt und die SchülerInnen weiterlaufen lassen. Dies ist allerdings oft auch im traditionellen Unterricht nicht zu verhindern. Nicht alle versuchen gleichermaßen, eine Aufgabe zu lösen, sondern warten auf einen Input des Lehrers oder eines Klassenkameraden. Eine aktive Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Videos kann man auch mit h5p erreichen. Ein zur Verfügung gestelltes Video wird durch dieses Programm ohne die Möglichkeit Vor- und Zurückzuspulen ablaufen und an bestimmten Stellen stellt man Fragen, Aufgaben, Zuweisungen,... ins Video, die SchülerInnen erst beantworten müssen, bevor es weiter geht. Wurde es falsch gelöst, kann man einstellen, dass das Video von vorne gesehen werden muss. Diese Art der Videodarbietung wurde übrigens von meinen SchülerInnen überraschenderweise als die beste auserkoren. "Wir müssen uns dann wirklich mit dem Thema befassen und das bringt ja nur Vorteile."

2.4 Minimierung von Input
Selbst mit einem Erklärvideo lässt man noch Raum für Entdeckendes Lernen. Wenn man versucht, den Input so knapp wie möglich zu halten und nicht alles bis ins kleinste Detail erklärt, lässt man Raum für eigene Kreativität in der folgenden Übungsphase im Unterricht. So hat es sich beispielweise als vorteilhaft erwiesen, dass meine Erklärvideos in den meisten Fällen nicht länger als 3-7 Minuten dauern. Auf der einen Seite, um die SchülerInnen aufgrund der Kürze der Hausaufgabe zum vollständigen Ansehen zu motivieren und auf der anderen Seite, um nicht zu viel Ergänzungen vorweg zu nehmen, auf die SchülerInnen vielleicht selbst in ihrer Vertiefungsphase gekommen wären. Gleichzeitig können aber in dieser kurzen Zeit keine mathematischen Sachverhalte vollständig erklärt werden. Viele SchülerInnen melden mir bei meinem Flipped Classroom zurück, dass sie meine Videos manchmal nur grob verstanden haben, aber in der eigenen Aktivität dann erkennen, was mit dem Video gemeint war. Der Aha-Effekt findet so auch in der Übungsphase statt. Oder aber sie schauen es sich am Ende einer Lernsequenz noch einmal an und haben dann zusammen mit dem aktiven Auseinandersetzen in den Übungsphasen verstanden, was mit dem Video zu Beginn gemeint war.

2.5 Entdeckendes Lernen beim Üben
Manchmal gibt es Lerninhalte, die sehr schwer von SchülerInnen selbst erarbeitet werden können. Umso wichtiger ist es dann, dass sie zumindest Zeit haben, selbstständig zu üben und aus Fehlern lernen zu können. Oftmals haben die SchülerInnen im Fach Mathematik etwas verstanden, können dann aber nicht selbst rechnen. Auch in solchen Phasen brauchen sie Raum, um Formeln und Algorithmen einzustudieren, um ein solides Basiswissen für spätere Themen zu erhalten.

3. Grenzen des Entdeckenden Lernens im Alltag
Das Problem der meisten Lehrer ist nicht, die SchülerInnen zum selbstständigen Entdecken zu bringen, vielmehr lässt es der Unterrichtsalltag und der Lehrplan selten zu, alle Themen auf diese Weise zu bearbeiten. SchülerInnen müssen nach einer solchen Phase manchmal wieder aus Sackgassen heraus geholt werden, Entdeckendes Lernen braucht in seiner Gesamtheit viel mehr Zeit, als der mancherorts so verabscheute Frontalunterricht. Die meisten KollegInnen befürworten diese Form des Unterrichts, fallen aber immer wieder in Erklärphasen zurück, um der Fülle an Inhalten in einem Schuljahr gerecht zu werden, vom Unterrichtsausfall durch andere Projekte ganz zu schweigen. Dies erklärt vielleicht auch, warum es viele SchülerInnen einfach nicht gewöhnt sind, selbstständig zu arbeiten beziehungsweise nicht gewillt sind, sich an einer Aufgabe oder Problemstellung die Zähne auszubeißen. Vielmehr fordern sie in solchen Settings immer wieder die Lehrkraft auf, es ihnen einfach zu erklären. Schlägt dies fehl, suchen sie sich immer häufiger auch Erklärvideos auf YouTube oder bekommen in manchen Fällen von den Eltern einen Nachhilfelehrer an die Hand. Man könnte hier einwerfen, dass die Aufgabenstellungen einfach nur motivierend genug sein müssen, um die SchülerInnen zu aktivieren. Doch es gibt eben auch viele SchülerInnen, die Angst haben etwas falsch zu machen oder anders gesagt, sich nicht trauen Fehler zu machen. Deshalb versuchen sie erst gar nicht, selbst aktiv zu werden. Darüber hinaus sehen die SchülerInnen auch keinen direkten Erfolg beim Entdeckenden Lernen. Landesweite Prüfungen sind auch so konzipiert, dass man mit einem reinen Anwenden von Lösungsschemata gute Noten erzielen kann. Das wiederholende Lernen (mit Video) ist dann vielleicht sogar ein mächtigeres didaktisches Konzept für nachhaltiges Lernen. Für SchülerInnen ist es nicht immer nachvollziehbar, warum sie sich mit etwas befassen müssen, das ihnen doch der Lehrer auch ganz leicht hätte erklären können. Dies führt auch dazu, dass Lehrer wieder in die Erklärfalle tappen und in selbstständigen Arbeitsphasen den nörgelnden SchülerInnen etwas erklären. Für offenen Unterricht mit Entdeckendem Lernen braucht es gute Nerven und gut vorbereitete Materialien. Das wiederum ist im Schulalltag immer seltener hinzubekommen.

4. Flipped Classroom als Brücke
Mit dem Konzept des umgedrehten Unterrichts gewinnt man vor allem eines: Zeit. Damit hat man mehr Chancen, Entdeckendes Lernen in den Unterricht zu integrieren ohne einzelne Themen straffer erarbeiten zu müssen. Dadurch erkennt man (wieder), wie nachhaltig Lernen durch Entdecken sein kann. Ich habe durch die Loslösung vom Input in der Präsenzphase mehr und mehr selbst entdecken können, was ich meinen SchülerInnen abverlangen kann und was nicht. Dementsprechend konnte ich immer mehr Erklärphasen herausnehmen und so meinen Unterricht entdeckender gestalten.
Bei den meisten Lehrern gibt es frontale Unterrichtsphasen, die wiederum in ein Erklärvideo gepackt werden können. Ich selbst bin so auf den Weg gekommen, SchülerInnen möglichst viel Zeit zum selbstständigen Arbeiten zur Verfügung zu stellen. Ich habe dadurch erkannt, wie leichter und entspannter Unterricht für alle Beteiligten werden kann. Auf der anderen Seite haben die SchülerInnen mit den Videos eine Sicherheit, wenn sie einmal in Sackgassen landen. Am Ende einer Thematik steht immer der Lehrer und erklärt. Es gilt dann nur die SchülerInnen davon zu überzeugen, dass Lernen am besten funktioniert, wenn man etwas selbst macht und nicht auf die Lösung wartet. Dafür hat der Lehrer nun 45/90 Minuten lang Zeit.  Im Fach Mathematik kann man verändertes Lern-/Arbeitsverhalten ziemlich schnell auch bei den Noten messen. Je mehr die SchülerInnen aktiv werden, desto mehr Chancen haben sie, besser zu werden. In meinen Projektklassen stößt man erst mal auf Gegenwehr, bis ich die SchülerInnen von dieser Art des Unterrichts und der damit verbundenen Selbstständigkeit überzeugt habe. Dann aber ist es ein Selbstläufer, der sogar ohne von mir erstellte Erklärvideos auskommen könnte. Denn dann haben die SchülerInnen auch gelernt, sich an der richtigen Stelle Hilfe aus dem Internet zu holen, auch für andere Fächer.

5. Fazit
Als Lehrer gilt es nach wie vor, SchülerInnen so viel wie möglich selbst machen zu lassen und die eigene frontale Aktivität zu minimieren. Um SchülerInnen von diesem Lernen zu überzeugen, können Erklärvideos eine Brücke sein, man kann sie da abholen wo sie stehen. Somit war und ist für mich der Flipped Classroom der Einstieg, die didaktischen Zielsetzungen aus dem Referendariat und dem Studium wieder stärker in den Unterricht zu integrieren. Auch für die SchülerInnen ist es ein Einstieg, um auf sicheren Gleisen entdeckend und selbstständig zu arbeiten und damit dann auch Verantwortung für das eigenen Lernen zu übernehmen. Aber manchmal muss es im Kontext Schule nach wie vor erlaubt sein, einfach mal etwas erklären zu dürfen.

Dieser Artikel wurde ursprünglich im Tagungsband zur ICMbeyond16 in St. Pölten veröffentlicht.