WhatsApp und YouTube verändern das Lernen und Lehren

Was habe ich mich früher über erwachsene Menschen aufgeregt, die uns Schüler nicht verstehen konnten oder wollten. Für mich war meine jugendliche Art zu leben und zu lernen völlig rational, warum wollte man uns nicht so wertschätzen wie wir sind und kam stattdessen immer wieder auf die guten alten Werte zu sprechen: “Früher war alles besser, des neumodische Zeugs bringt nix…”

 

Jahre später ertappe ich mich nun selbst dabei, wie ich als Lehrer solche Sätze von mir gebe, um Lernschwierigkeiten meiner SchülerInnen zu begründen. Es hat sich ja auch viel verändert. Hatte ich in meiner Schulzeit gerade mal ein Handy zum Telefonieren, greift heute jeder Schüler mit seinem Smartphone auf Inhalte des Internets zu. Wir mussten früher in Bibliotheken marschieren, um Wissen für Referate zu erhalten, heute kann man sich mit dem Smartphone informieren, wann und wo man will. Das Wissen steckt quasi schon in der Hosentasche.

Diese beiden Welten kollidieren spätestens in der Welt Schule. Während wir Lehrer wollen, dass die SchülerInnen selbst entdecken, selbst Probleme finden und lösen, selbst reflektieren und eigene Wege beschreiten, suchen sich diese bequemere Wege für solche Aufgaben.

Bei der Recherche für ein Referatsthema wird häufig zuerst ein fertiges Referat gesucht. Warum sollte man auch mehrere Quellen gegenlesen, vergleichen und für die eigene Arbeit reflektieren, wenn man ein gut bewertetes Referat schon zur Verfügung hat. Ich leite an meiner Schule die Projektpräsentationen, Schüler schreiben eine Ausarbeitung und halten einen Vortrag zu einem bestimmten Thema und haben dafür mehrere Monate Zeit. Die größte Arbeit ist es, SchülerInnen von der Quelle Buch zu überzeugen und Ihnen eine facettenreiche Recherche beizubringen. Das ist etwas, was sie nicht wie wir gelernt haben, der Mehrwert wird erst nicht verstanden. Es wird das fertige Produkt gesucht und nicht Schritt für Schritt in Richtung eines Ergebnisses gedacht. Ich unterrichte an einer Realschule und natürlich sind die getroffenen Aussagen nicht pauschal auf die ganze Schülerschaft übertragbar, aber derartige Beobachtungen häufen sich.

 

Das betrifft dann aber auch das Lernen in den “normalen” Fächern. Ich hatte bereits eine Vermutung und habe deshalb an einer Schule (die hier anonym bleiben möchte) insgesamt 171 SchülerInnen aus der 8. und 9. Klasse befragt, ob sie schon einmal mit einem Video auf YouTube freiwillig für den Unterricht gelernt haben. Die Betonung lag hier auf der Freiwilligkeit und dass es sich um ein Video zum Lernen für die Schule handelt. Die folgenden Statsitiken sind dabei nicht wissenschaftlich, zu viele Einflussfaktoren sind nicht abgegrenzt. Für mich ging es darum, einen Einblick in das Lernverhalten von SchülerInnen zu bekommen. Die Ergebnisse sind für mich nicht überraschend und dennoch zeigen sie, wie stark sich das möglicherweise. Lernen verändert hat.

 

Man kann überspitzt sagen, dass SchülerInnen sich bereits selbstständig mit Flipped Classroom unterrichten, ohne dass die LehrerInnen es wissen. Hat man in der Schule etwas nicht verstanden geht der Weg zu Hause an den PC, um Inhalte nachzubereiten, bzw. es sich noch einmal erklären zu lassen. Das ist erst einmal kein so schlechter Weg. Auf den zweiten Blick kann es aber auch eine Gefahr sein: Wenn Konzerne diese Marktlücke entdecken (das tun manche bereits) und im Nachhilfemarkt vermehrt auf Videotutorials setzen. Oder aber, wenn der Lehrer im Unterricht offene Aufgaben stellt und SchülerInnen selbst entdecken lassen will, diese aber nur darauf warten, es sich am Nachmittag mit einem Video erklären zu lassen. Je mehr diese Tendenzen zunehmen, umso unaufmerksamer werden die SchülerInnen im Unterricht werden, sie warten auf den Nachmittag, um den Inhalt des Unterrichts zu durchdringen. Auch hier gilt, nicht alle SchülerInnen zeigen diese Tendenzen, mit dem Vorhandensein von Videotutorials mehren sich aber diejenigen, die damit beginnen zu lernen.

 

Gleiches gilt bei der Erledigung der Hausaufgaben. Durch die Beobachtungen in meinem Flipped Classroom hatte ich an derselben Schule eine zweite Umfrage erstellt: Hast Du schon einmal Deine Hausaufgabe bei WhatsApp abgeschrieben. Das Ergebnis war dann selbst für mich erschreckend: Nur 4% meiner Befragten haben noch nie auf diese Weise ihre Hausaufgaben erledigt, das sind wahrscheinlich diejenigen ohne Smartphone. Auch hier muss ein Umdenken stattfinden. SchülerInnen greifen immer selbstverständlicher zum Smartphone, um die Hausaufgabe schnell abzuschreiben ohne vorher eigene Versuche zu wagen. Das alles trägt nicht zum Lernen bei, wie wir uns das als LehrerInnen vorstellen.

 

Mir ist bewusst, dass der Flipped Classroom nicht nur Vorteile hat, aber in diesen beiden Punkten kommt er dem Lernverhalten der Schüler entgegen, dem Lehrverhalten aber auch. Die Hausaufgabe nur bei WhatsApp abschreiben ist zeitlich bei der Flip-Hausaufgabe nicht rentabel. Außerdem können die Videos nachträglich immer wieder angesehen werden. Die Videos und der umgedrehte Unterricht sind quasi ein Entgegenkommen, um einerseits die SchülerInnen vielleicht wieder zurück ins Boot Schule zu bekommen. Andererseits ist es vielleicht auch für Lehrkräfte entspannter, die aufgrund der oben genannten Problematiken immer mehr Nerven in Ihrem Unterricht verlieren, weil SchülerInnen immer weniger lernen können. Beim Flipped Classroom werden die Unterrichtsphasen neu rhythmisiert und angeordnet, es ändert sich quasi nur die Reihenfolge.
Klar, man könnte sagen selbst schuld wenn die Klasse ihren Aufgaben nicht nachkommt , aber das macht keinen Lehrer glücklich, der eigentlich einmal diesen Job angenommen hat, um vielen etwas beizubringen.

Ich habe mit der Einführung von Flipped Classroom immer seltener das Gefühl, dass ich mich über die Jugend von heute aufregen muss. Ich glaube ich habe Ihr Potential erkannt und weiß jetzt wie man trotzdem noch guten Unterricht machen kann, ohne ständig Nerven zu verlieren.