Flipped Classroom – es steckt so viel mehr dahinter

Eine Unterrichtsmethode mit unglaublichem Potential. Die Schüler bereiten sich (z.B.) mit einem Lernvideo  auf den Unterricht vor und haben dann im Unterricht Raum und Zeit, sich intensiv in verschiedenen Lernarrangements mit dem Thema auseinanderzusetzen und 45 Minuten lang durch eine Lehrkraft begleitet zu üben. Der herkömmliche Unterricht findet mit Video also nachmittags statt, die bisherigen Hausaufgaben werden auf den Vormittag verlegt. Soweit die allgemein vorherrschende Definition.

Aber es steckt so viel mehr dahinter: Flipped Classroom ist ein Konzept, das Blended Learning und Schülerorientiertes Lernen synergetisch verzahnt, ohne dass man den Lehrplan außer Acht lassen muss. Im Folgenden werde ich meinen Unterricht vorstellen. Das heißt aber nicht, das Flipped Classroom so allgemein unterrichtet wird, sondern wie ich das Konzept verwende, um Unterricht effizient und schülerfreundlich zu gestalten.
Das Video, mit dem sich die Schüler auf den Unterricht vorbereiten, ist von mir auf maximal 7 Minuten (meist kürzer) konzipiert, länger wäre zu viel Input auf einmal. Mit dem Abschreiben des Schlussbildes und dem Lösen eines dazu passenden Quizzes beläuft sich die Arbeitsphase  der Schüler auf circa 20 Minuten. Die Leistung dahinter ist vergleichsweise niedrig. Ein Video ansehen, abschreiben und lernen ist deutlich weniger anspruchsvoll, als das selbstständige Lösen von Übungen, das zuvor in den Hausaufgaben verlangt war. Die Videos werden als Links zu meinem YouTube-Kanal bei der Lernplattform mebis (moodle-basiert; Bayern) zusammen mit Lösungen von Aufgaben und Arbeitsanweisungen digital zur Verfügung gestellt. So entsteht im Laufe des Schuljahres ein digitales Klassenzimmer mit einem vollständigen Abbild des Unterrichts. Verpasste oder vergessene Inhalte können damit zu jeder Zeit wiederholt werden. Gleichzeitig haben die Schüler mit ihrem Smartphone (BYOD) von überall (Freibad, Bus,…)  Zugriff auf die Videos und können in ihrem eigenen Tempo individuell lernen. Im Vergleich zum zentral geführten Unterricht kann man so die Schüler deutlich besser direkt erreichen.
Zu Beginn einer Unterrichtsstunde können dann Verständnisfragen gestellt werden, sollte ein Video einmal einen Sachverhalt nicht ausreichend erklärt haben. Der Rest der Unterrichtsstunde bleibt dann, um schülerzentriert zu arbeiten: Differenzierte Aufgaben zur selbstständigen Auswahl, Peer-Tutoring für Verständnisschwierigkeiten, Lernen durch Lehren bei weiterführenden Aufgaben, digitales Üben bei bettermarks.de, Aktives Plenum, Content selbst erstellen und vor allem jede Menge Feedback in alle Richtungen. Der Unterricht wird zu einem großen Teil in die Hände der Schüler gelegt, das Klassenzimmer „demokratisiert“. Diese nun wertvolle Unterrichtszeit ist der Mehrwert von Flipped Classroom. Als Lehrer hat man nun einen viel besseren Überblick über das Arbeiten der Klasse und die Selbstständigkeit der Schüler nimmt oft um ein Vielfaches zu bzw. kann nun leichter aktiviert werden. Dies entspannt beide Seiten, Lehrer und Schüler.
Kritikpunkt an Flipped Classroom ist häufig die bleibende Lehrerzentriertheit bei der Materialbeschaffung und bei den Videos. Natürlich wird kein Thema nachmittags gemeinsam erarbeitet, nur wenige Videos beinhalten Arbeitsaufträge. Doch solange in den Lehrplänen Lernziele und Kompetenzen abgefragt werden, muss ich Schülern auch einige Dinge vormachen und beibringen dürfen. Ich vergleiche das gerne mit einem Fußballer. Für ein gutes Passspiel reicht es nicht aus, dass er sich alles selbst erarbeitet. Der Trainer muss gelegentlich auch eine Übung vormachen. Was dann der Spieler daraus macht, ist ihm selbst überlassen, dann kann man ihn trainieren lassen.
Entdeckendes Lernen kann man aber auch mit Impulsvideos erreichen. Man muss sich nur im Vorfeld überlegen, wann ein Video zum Einsatz kommen soll. Das muss dan auch nicht immer zur Vorbereitung auf einen Stunde sein. Es kommt eben nicht auf die Videos an, sondern das setting mit einem Lehrer als Experten, der aber im Unterricht schülerzentriert arbeiten lassen kann.

Dass Schüler selbstständig zu einem Thema recherchieren, selbstständig ein Thema lehrplangerecht eingrenzen und trotz Fehler zu einem vorzeigbaren Ergebnis kommen, kann vielleicht in Projekten funktionieren, aber bestimmt nicht in der Ganzheit von allen Unterrichtsfächern. In der heutigen Diskussion um Unterricht ist mir das oft zu wenig berücksichtigt. Das dort formulierte Idealbild von selbstständigem Lernen missachtet die Heterogenität und auch die Unbeholfenheit vieler Schüler in der Praxis. Gute Schüler kann ich in Lehrerrollen rücken, aber lernschwache Schüler mit wenig Begeisterung z.B. für Mathematik brauchen manchmal in kleinen Häppchen einen gesicherten Input. Sonst laufen sie ständig in Sackgassen, die sie sich dann auch noch merken. Das kann nicht der Sinn von Unterricht sein.
Ich bin so froh, dieses Prinzip ausprobiert zu haben. Der Unterricht ist so viel aufregender und facettenreicher. Schade, dass bisher so Wenige sich auf den Weg gemacht haben. Ganz oft wünschte ich mir einen Austausch, um noch mehr aus Flipped Classroom rauszuholen. Ein paar haben sich schon bei www.umgedrehterunterricht.de eingefunden. Allen anderen empfehle ich: einfach mal ein Video so einsetzen, dass mehr Unterrichtszeit bleibt und schauen, was dabei heraus kommt.